Pressebericht zur Gedenkveranstaltung | 75. Jahrestag „Tag der Befreiung“
LANGENBOCHUM. Durch ihr Kinderzimmerfenster blickte Hildegard Schicke einst in das Kriegsgefangenenlager.Während der Gedenkveranstaltung schildert die 88-Jährige zum ersten Mal öffentlich ihre schrecklichen Eindrücke.
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Von Frank Bergmannshoff | Hertener Allgemeine vom 11.05.2020
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Geplant ist eine kleine und kurze Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren. Die Polizei hat 25 Teilnehmer genehmigt, Beamte sind gestern Mittag vor Ort auf dem Zechengelände Schlägel & Eisen und zählen nach. An der Geschichtsstele, die an das Schicksal der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen erinnert, sind die Stehplätze für die Zuhörer ausgemessen und markiert. Geplant ist, dass Dennis Hölker vom Bündnis „Herten ist bunt“ einen Text verliest. Doch dann erleben die Teilnehmer etwas, das selbst der detaillierteste Text nicht leisten kann.
Begleitet von Tochter Andrea und Schwiegersohn Andreas Dünker, kommt Hildegard Schicke zu der Veranstaltung. Was sie jahrelang höchstens ihren Kindern und Enkeln berichtet hatte, schildert die 88-Jährige jetzt zum ersten Mal öffentlich.
In den 1940er-Jahren lebt ihre Familie an der Westerholter Straße. „Durch mein Kinderzimmerfenster konnte ich über die Zechenbahn genau in das Lager schauen.“ Hildegard Schicke erzählt zunächst etwas distanzierter: „Wenn nachts einer ausbrechen wollte, gingen alle Scheinwerfer an und es wurde geschossen. Wir hatten sowieso ständig Fliegeralarm und dann auch noch das.“ Wenn es heute Gewitter mit Blitz und Donner gebe, komme die Erinnerung hoch.
Nach und nach brechen sich bei Hildegard Schicke ganz persönliche Erinnerungen Bahn. Jeden Tag seien Gefangene über den „schwarzen Weg“ von der Zeche zum Lager an der Ecke Lyckstraße/ Hindenburgstraße (heute Hahnenbergstraße) gelaufen. Mit 2000 Plätzen in Baracken – vollgestopft mit bis zu 2600 Menschen, überwiegend aus der Sowjetunion, der jüngste 13 Jahre alt – war es das größte Lager in Herten. „Die Gefangenen waren so abgemagert und hatten nur Lumpen an“, sagt Hildegard Schicke mit trauriger Miene. „Manche konnten kaum stehen und taumelten. Einige sind umgekippt. Andere Gefangenen mussten sie tragen.“
„Wir Kinder haben ihnen manchmal Brötchen zugeworfen. Ein Mann konnte es nicht fangen und bückte sich, um es aufzuheben. Da kam ein Soldat und hat ihm mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen. Damals war ich zwölf. Wir wären am liebsten hingegangen und hätten den Mann getröstet. Aber das ging ja nicht.“
Während die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung aufmerksam zuhören, werden die Schilderungen der 88-Jährigen noch eindringlicher. So hätten die Häftlinge oft kleine Geschenke aus Holz geschnitzt, zum Beispiel Vögel, und sie über den Zaun des
Lagers geworfen. Hildegard Schicke: „Wir haben als Dank Brotknäppe zurückgeworfen. Aber einmal flog das Brot nicht weit genug und landete im Todesstreifen. Ein Häftling wollte es holen. Da hat ein Soldat vom Turm aus geschossen. Der Mann fiel um und wir sind weggerannt.“
„Ich habe versucht, das alles zu vergessen“
Hildegard Schicke berichtet, wie auch Kinder von den Nazis schikaniert und bestraft wurden, wenn sie „Guten Morgen“ statt „Heil Hitler“ sagten. Sie hat auch nicht vergessen, wie sie ihrem Vater auf Schacht 4 Essen bringen wollte und unterwegs beinahe bei einem Fliegerangriff erschossen worden wäre, hätte ein Bergmann sie nicht im letzten Moment gepackt und in ein Erdloch gezogen.
„Ich habe versucht, das alles zu vergessen – aber das vergisst man nicht“, sagt Hildegard Schicke. Sie lebe bei ihren Kindern, dort gehe es ihr gut. Doch die schrecklichen Eindrücke des Krieges haben ihre persönlichen Maßstäbe verschoben: „Wer über das Corona-Virus jammert, dem sage ich: Hauptsache kein Krieg mehr!“
Dennis Hölker steht an der mit weißen Rosen geschmückten Geschichtsstele auf dem Zechengelände. „Es ist etwas anderes, so etwas von jemanden zu hören, der das miterlebt hat“, resümiert er, bevor es ihm die Sprache verschlägt. Gerd Lange spielt das 1933 von KZ-Häftlingen im Emsland geschaffene und später von Hannes Wader
gesungene Lied „Moorsoldaten“. Die meisten singen mit.
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IM BLICKPUNKT
Das Bündnis „Herten ist bunt“ sowie die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes/Bund der Antifaschisten) und das Projekt „Demokratie leben“ haben die Gedenkveranstaltung organisiert. Es war die einzige öffentliche Veranstaltung in Herten.
Ursprünglich sah die Planung auch einen Spaziergang über den „schwarzen Weg“ zum Ortdesfrüheren Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlagers vor. Dieses Vorhaben war wegen der Corona-Beschränkungen jedoch nicht möglich und wird stattdessen als Videoprojekt umgesetzt: Kamera und Video-Drohne simulieren den Spaziergang, an drei Stationen sprechen Bürgermeister Fred Toplak sowie Gerd Lange und Dennis Hölker über das Lager an der heutigen Agnes-Miegel-Straße sowie über das Schicksal der Zwangsarbeiterin Maria Laskowski (1923-1996). Sie wurde von den Nazis aus der
Ukraine nach Herten verschleppt, lernte auf Schlägel & Eisen ihren späteren Ehemann Günter kennen und blieb in Herten.
Das Video, das maßgeblich von Michael Holtschulte produziert wird,
erscheint in Kürze auf www.buendnis-herten.de
Video-Dokumentation folgt später
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